Ich sollte nur dann etwas beurteilen, wenn es notwendig ist; es ist nur dann notwendig, wenn es mich betrifft; und es betrifft mich nur dann, wenn es zu meinem Lebensraum gehört, den ich beeinflussen und gestalten kann, den ich verantworten muss.

Was Andere denken, sagen und tun, gehört nicht zu meinem Lebensraum; es betrifft mich nicht; deshalb muss ich es nicht beurteilen.

Und wenn ich schon urteile, dann muss ich mein Urteil nicht - ungefragt und unerbeten - dem Anderen aufdrängen, weil ich meine, ich müsste ihn belehren oder erziehen.

Im Matnawi gibt es eine kurze Geschichte, die das schön veranschaulicht:

„Vier Inder gingen in eine Moschee; sie beugten ihre Häupter und warfen sich zum Gotteslob nieder.

Jeder verrichtete den Takbir ( Anfang des Ritualgebets „Gott ist größer“) nach dem niyyat (die Absicht, schweigend zu beten) und begann, unterwürfig und demütig zu beten.

Der Muezzin kam , und einem von ihnen entschlüpfte die Bemerkung: „o Muezzin, hast du zum Gebet gerufen? Ist es Zeit?“

Der zweite Inder fühlte sich gezwungen, zu sagen: „He, du hast geredet , und dein Gebet ist ungültig.“

Der Dritte sagte zum Zweiten: „O Onkel, warum tadelst du ihn? Sag es zu dir selbst.“

Der Vierte sagte: „Gott sei gelobt, dass ich nicht in die Grube gefallen bin, wie diese drei „

Also waren die Gebete aller Vier verdorben, und die Fehlersucher waren noch mehr abgewichen als der Erste.“ (Mathnawi II, 3029-3035)










Mir fällt ein, dass irgendwo in den Evangelien ein Christuswort steht mit dem Sinn, dass man nicht urteilen soll, damit man nicht beurteilt wird, dass ich einen Anderen nicht verurteilen sollte, weil ich damit auch mich selbst verurteile. Da ich den genauen Wortlaut nicht kenne, schlage ich in der Wortkonkordanz nach, um die genaue Stelle zu finden. Ich finde sie aber weder unter „urteilen“ noch unter „verurteilen“. Schließlich finde ich sie unter „richten“:

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Mit welchem Urteile ihr richtet, mit dem werdet ihr auch gerichtet werden.“(Mt 7, 1-2)

Aber ist die Formulierung, wie ich sie in Erinnerung hatte, nicht viel treffender? Weil dieses Christuswort zu meinen Lieblingsstellen in der Bibel gehört, weiß ich, dass im griechischen Text „mä krinete“ steht. Bedeutet „krinein“ denn nicht zunächst einmal „urteilen“.

Ich schlage im griechisch-deutschen Wörterbuch nach und finde dann unter „krinein“ ein ganzes Spektrum von Bedeutungen:

  1. Scheiden, sichten, sondern, trennen

a)ordnen b)unterscheiden c)aussondern, auslesen, auswählen, aussuchen

d) durch Auswahl bestimmen oder festsetzen, sich für etwas entscheiden, vorziehen

2. urteilen, beurteilen

a)für etwas halten b) glauben, meinen c)deuten, auslegen

3. richterlich urteilen, richten

a)richterlich entscheiden b) anklagen, verklagen c)verhören d)verurteilen

Bewundernd bemerke ich, wie genial das Griechische all diese Bedeutungsnuancen in einem Wort zusammenfaßt. Und dass es Sinn macht, das Christuswort in allen drei Hauptbedeutungen zu übersetzen.

Trennt nicht, damit ihr nicht getrennt werdet!

Sondert nicht aus, damit ihr nicht ausgesondert werdet!

Urteilt nicht, damit ihr nicht beurteilt werdet!

Klagt nicht an, damit ihr nicht angeklagt werdet!

Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet!


Ich lese die Textstelle nach, und finde dabei, dass in den folgenden Zeilen die bekannte Metapher vom Splitter und Balken steht:

„Denn wie ihr urteilt (richtet, verurteilt), so werdet ihr beurteilt (gerichtet, verurteilt ) werden, und nach dem Maß, mit dem ihr mißt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.

Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?

Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?

Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen!“

(Mt 7, 2-5)


Ich schaue wieder unter „richten“ in die Wortkonkordanz, und entdecke, dass es auch bei Paulus im Römerbrief eine ganz ähnliche Stelle gibt:

„Darum bist du unentschuldbar - wer du auch bist, Mensch - wenn du richtest. Denn worin du die anderen richtest, darin verurteilst du dich selber, da du, der Richtende, dasselbe tust.“

(Rö 2,1)



Ich erinnere mich, dass ich schon als Jugendlicher beeindruckt und ergriffen war, als ich verstand, wie stark der Geist des Nicht-Urteilens das Evangelium durchweht.

Da gibt es z. B das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18, 9-14)

Und wirklich genial finde ich die Geschichte von Christus und der Ehebrecherin (Joh 8, 3-11):






Auch der Buddhismus ist stark geprägt vom Ideal des Nicht-Urteilens, des Nicht-Unterscheidens.

Ein schönes Beispiel dafür liefert Thich Nhat Hanh in seinem Kommentar zum Diamant-Sutra:

„Der Buddha lehrte seine Mönche und Nonnen, während der Almosenrunde nicht zwischen armen und reichen Häusern zu unterscheiden, sondern einfach von einer Behausung zur nächsten zu gehen. Das Erbetteln von Almosen ist ein Weg, den Geist der Nicht-Unterscheidung zu pflegen. Es bietet die Möglichkeit, mit Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Klassen in Berührung zu sein und sie in den Übungen und Lehren des Buddha zu unterweisen. Selbst wenn ein Mönch weiß, dass die Menschen in einem bestimmten Haus unfreundlich sind und ihm kein Essen geben werden, so muss er doch auch zu diesem Haus gehen und für einige Minuten dort stehenbleiben; erst dann darf er zum nächsten Haus weitergehen.“







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