Opfere keine gegenwärtige Lebensqualität, um zukünftige Lebensqualität zu erreichen oder abzusichern!

Opfere vor allem die Qualität, in der Gegenwart mit anderen umzugehen, nicht für einpersönliches Ziel, das du in der Zukunft für dich allein erreichen willst!



In den Jahren, in denen ich Aikido aus-übte und ein-übte, eine gewalt-freie japanische Kampfkunst, die Kunst des Nicht-Kämpfens, kam ein oder zwei Mal im Jahr Yoshigasaki, unser Großmeister, zu uns nach Duisburg und bot ein mehrtägiges Wochenend-Seminar an.

Auf diesen Workshops passierte es dann öfters, dass der Sensei (Meister) eine Frage stellte, die so ungewöhnlich-unvertraut war, dass sich keiner von uns Schülern traute, darauf eine Antwort zu geben, so dass Yoshigasaki sie nach einigen Sekunden des Abwartens selbst beantwortete.

Eine dieser Fragen und Antworten ist mir bis heute in Erinnerung geblieben:

„ Was tut ihr, wenn dein Freund im Urlaub in den kalten Norden, du selbst in den heißen Süden fahren willst, wenn deine Freundin an die See, du selbst in die Berge willst ?“

Und die Antwort: „ Redet darüber mit einem guten Gefühl, so, dass ihr euch miteinander wohl fühlt!“

Was zwischen dir und einem anderen in der Gegen -Wart geschieht, die Begegnung mit dem Anderen, der jetzt dir gegenüber wartet, das Gespräch, der Dia-Log, das Zwischen-Wort, das Wort zwischen dem Anderen und dir, sind wichtiger als jedes deiner Eigen-Ziele, die keine lebendige, gegenwärtige Wirklichkeit sind, sondern nur blasse Schatten der Wirklichkeit, die abgetrennt als Phantasie über die Zukunft nur in deinem Kopf existieren.

(Ausführlich ist diese dialogische Perspektive in den Schriften Martin Bubers dargestellt.)



Ich lade dich dazu ein, lieber Leser, an dieser Stelle in dem Buch „Komm, ich erzähle dir ...“

von Jorge Bucay die Geschichte „Auf der Suche nach Buddha“ zu lesen.

Und ich will dir auch folgende Erzählung von Leo Tolstoj nicht vorenthalten:




Drei wunderbare Antworten


Eines Tages begab es sich, dass der Kaiser zu der Mei­nung gelangte, er müsse nur die Antwort auf drei Fragen wissen, dann könne er nie mehr in die Irre gehen.

Welche Zeit ist die beste für jede Sache?

Welche Menschen sind die wichtigsten, mit denen es zusammenzuarbeiten gilt?

Welches ist die wichtigste Sache, die man stets tun sollte?

Der Kaiser gab also in seinem Reich eine Bekanntmachung heraus, die folgendes besagte: Jeder, der ihm diese Fragen beantworten könne, solle reichlich belohnt werden. Darauf machten sich viele, die diese Bekanntmachung lasen, sogleich auf den Weg zum Palast, und jeder hatte eine andere Antwort.

So sagte einer als Antwort auf die erste Frage, der Kaiser solle sich einen genauen Zeitplan machen und jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr für bestimmte Auf­gaben festlegen und diesen Plan dann genauestens befolgen. Nur so könne er hoffen, jede Aufgabe zur rechten Zeit zu erfüllen.

Ein anderer meinte, es sei unmöglich, alles im Voraus zu planen, der Kaiser solle daher alle nichtigen Vergnügungen lassen und seine Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Ding richten, um so zu wissen, wann er was tun solle.

Ein weiterer bestand darauf, dass der Kaiser allein gar nicht die nötige Voraussicht und Befähigung haben könne, zu entscheiden, wann jede Aufgabe zu tun sei; was er wirk­lich brauche, sei die Einrichtung eines Rates von Weisen, deren Ratschläge er dann befolgen solle. Wiederum ein an­derer gab zu bedenken, dass gewisse Angelegenheiten eine sofortige Entscheidung forderten und es gar keine Zeit für lange Beratung gebe; um im Voraus zu wissen, was gesche­hen würde, solle er Zauberer und Wahrsager befragen.

Auch in der Beantwortung der zweiten Frage herrschte keine Übereinstimmung.

So sagte einer, der Kaiser solle all sein Vertrauen in Ver­walter setzen, ein anderer drängte darauf, sich auf Priester und Mönche zu stützen, andere empfahlen Ärzte. Und wie­der andere setzten ihr Vertrauen in Krieger.

Eine ähnliche Vielfalt von Antworten brachte die dritte Frage.

Einer sagte, die Wissenschaften seien das Wichtigste, wo­mit es sich zu befassen gelte. Andere bestanden auf der Reli­gion. Und wieder andere behaupteten, das Wichtigste sei die Kriegskunst.

Der Kaiser war jedoch mit keiner der Antworten zufrie­den, und so gab es keine Belohnung.

Nachdem er einige Nächte mit Nachdenken zugebracht hatte, beschloss der Kaiser, einen Einsiedler aufzusuchen, von dem es hieß, er sei erleuchtet. Der Kaiser wollte dem Einsiedler die drei Fragen stellen; und da er wusste, dass der Einsiedler die Berge nie verließ und bekannt dafür war, nichts mit wohlhabenden oder mächtigen Menschen zu tun haben zu wollen und deshalb nur die Armen zu empfangen, verkleidete sich der Kaiser als einfacher Bauer. Seinen Die­nern befahl er, am Fuße des Berges auf ihn zu warten, wäh­rend er sich allein auf den Weg machte, den Einsiedler zu suchen.

Schließlich erreichte er die Wohnstatt des heiligen Man­nes. Der Einsiedler war gerade dabei, einen Garten anzu­legen. Er sah den Fremden, begrüßte ihn mit einem kurzen Kopfnicken und grub weiter. Offensichtlich fiel ihm die Ar­beit schwer. Er war ein alter Mann und jedes Mal, wenn er seinen Spaten in den Boden stieß, um Erde auszuheben, at­mete er schwer.

Der Kaiser näherte sich ihm und sprach: »Ich bin hierher gekommen, um deine Hilfe bei drei Fragen zu erbitten. Welche Zeit ist die beste für jede Sache? Welche Menschen sind die wichtigsten, mit denen es zusammenzuarbeiten gilt? Und was ist die wichtigste Sache, die man stets tun sollte?«

Der Einsiedler hörte aufmerksam zu, klopfte dem Kaiser aber nur auf die Schulter und grub weiter. Der Kaiser sagte: »Du musst müde sein, lass mich dir dabei helfen.« Der Einsiedler dankte ihm, gab dem Kaiser den Spaten und setzt sich zum Ausruhen auf die Erde.

Als er zwei Beete umgegraben hatte, hielt der Kaiser inne, wandte sich an den Einsiedler und wiederholte seine drei Fragen. Der Einsiedler antwortete ihm immer noch nicht, stand statt dessen auf, deutete auf den Spaten und sagte:

»Ruh dich auch einmal aus! Ich kann jetzt wieder weiter­machen. « Der Kaiser fuhr jedoch fort zu graben. Es verging eine Stunde und eine zweite. Schließlich begann die Sonne hinter den Bergen unterzugehen. Der Kaiser setzte den Spa­ten nieder und sagte zu dem Einsiedler: »Ich kam her, um dich zu fragen, ob du mir meine drei Fragen beantworten kannst. Wenn du jedoch keine Antworten für mich hast, so lasse es mich wissen, damit ich mich auf den Weg nach Hause machen kann.«

Der Einsiedler hob seinen Kopf und fragte den Kaiser:

»Hörst du dort drüben jemanden rennen?« Der Kaiser wandte seinen Kopf. Beide sahen einen Mann mit einem langen weißen Bart aus einem Waldstück hervortreten und auf sie zulaufen. Er hielt beide Hände gegen eine bluten­de Wunde an seinem Bauch gepresst. Vor dem Kaiser fiel der Mann ohnmächtig zu Boden und stöhnte. Sie öffneten die Kleider des Mannes, und der Kaiser und der Einsiedler sahen, dass der Mann eine tiefe Bauchwunde hatte. Der Kaiser reinigte die Wunde sorgfältig und verband sie mit seinem eigenen Hemd, das sich sofort mit dem Blut voll­saugte. Er wrang das Hemd aus und verband ihn ein

zweites Mal. Damit fuhr er fort, bis die Wunde aufhörte zu bluten.

Schließlich erlangte der Mann sein Bewusstsein wieder und bat um einen Schluck Wasser. Der Kaiser eilte zum Bach und brachte einen Krug mit frischem Wasser. Inzwi­schen war die Sonne untergegangen, die Nachtluft war kalt. Der Einsiedler half dem Kaiser, den Mann in seine Hütte zu tragen und auf sein Bett zu legen. Der Mann schloss die Au­gen und lag ganz ruhig da. Der Kaiser war nun sehr müde geworden nach diesem langen Tag, angestrengt vom Auf­stieg auf den Berg und vom Graben im Garten. Er lehnte sich gegen den Türpfosten und schlief ein. Als er erwachte, war die Sonne schon über den Bergen aufgegangen. Für einen Augenblick wusste er nicht, wo er war und warum er gekommen war. Er wandte seinen Blick zum Bett und sah, dass auch der Verwundete verwirrt um sich schaute. Als dieser den Kaiser erblickte, schaute er ihn eindringlich an und sagte mit kaum hörbarem Flüstern: »Vergebt mir.«

»Was hast du getan, das ich dir verzeihen sollte?« fragte der Kaiser.

»Ihr kennt mich nicht. Eure Majestät, aber ich kenne Euch. Ich war Euer eingeschworener Feind, und ich hatte gelobt, mich an Euch zu rächen, denn im letzten Krieg habt Ihr meinen Bruder getötet und meinen Besitz an Euch ge­bracht. Als ich hörte, dass Ihr allein auf den Berg kommen würdet, um den Einsiedler aufzusuchen, beschloss ich, Euch auf dem Rückweg aufzulauern und Euch zu töten. Nachdem ich jedoch lange gewartet hatte und immer noch nichts von Euch zu sehen war, verließ ich meinen Hinterhalt, um Euch zu suchen. Statt auf Euch traf ich jedoch auf Eure Diener, die mich erkannten und mich verwundeten. Glücklicherweise konnte ich entfliehen und eilte hierher. Hätte ich Euch nicht angetroffen, wäre ich jetzt sicherlich tot. Ich hatte vor, Euch zu töten, und nun habt Ihr mir stattdessen das Leben gerettet! Ich bin beschämt und weiß gar nicht, wie ich meine Dank­barkeit in Worte fassen kann. Wenn ich am Leben bleibe, gelobe ich, Euch für den Rest meines Lebens zu dienen, und ich werde meine Kinder und Kindeskinder anweisen, es eben­so zu tun. Verzeiht mir, ich bitte Euch.«

Der Kaiser war überaus erfreut darüber, wie leicht er sich mit seinem früheren Feind aussöhnen konnte. Er vergab diesem Mann nicht nur, sondern versprach, ihm all seinen Besitz zurückzugeben und seinen Leibarzt und seine Be­diensteten zu ihm zu schicken, damit sie ihn bis zur völligen Genesung pflegten. Nachdem er seinen Dienern aufgetragen hatte, den Mann nach Hause zu bringen, wollte der Kaiser ein letztes Mal mit dem Einsiedler sprechen. Denn bevor er in seinen Palast zurückkehrte, wollte er seine drei Fragen noch einmal wiederholen. Als er beim Einsiedler ankam, war die­ser gerade dabei, Samen in die Erde zu säen, die sie am Tag zuvor umgegraben hatten.

Der Einsiedler stand auf und schaute den Kaiser an:

,,Aber Eure Fragen wurden doch bereits beantwortet.“ »Wie das?« fragte der Kaiser voller Staunen.

»Hättet Ihr gestern nicht Mitleid mit meinem Alter gehabt und mir geholfen, diese Beete anzulegen, hätte Euch der Mann auf dem Rückweg überfallen. Dann hättet Ihr es tief bereut, nicht bei mir geblieben zu sein. Die wichtigste Zeit war also die Zeit, in der Ihr die Beete ausgehoben habt, die wichtigste Person war ich, und die wichtigste Aufgabe be­stand darin, mir zu helfen. Als später der Verwundete hier­her gerannt kam, war die wichtigste Zeit die, die Ihr mit dem Verbinden der Wunde zubrachtet, denn wenn Ihr ihn nicht gepflegt hättet, wäre er gestorben, und Ihr hättet die Möglichkeit versäumt, Euch mit ihm auszusöhnen. Wie schon zuvor war die wichtigste Person also er, und die wichtigste Aufgabe bestand darin, seine Wunden zu versorgen. Denkt daran, es gibt nur eine wichtige Zeit, und die ist jetzt. Der gegenwärtige Augenblick ist die einzige Zeit, über die wir verfügen. Und die wichtigste Person ist immer der Mensch, mit dem Ihr gerade beisammen seid, der unmittelbar vor Euch steht, denn wer weiß, ob Ihr in Zukunft noch mit irgend­einem Menschen zu tun haben werdet? Und die wichtigste Aufgabe besteht darin, den Menschen an Eurer Seite glück­lich zu machen. Das allein ist Sinn und Zweck des Lebens.«




Antworten auf den Ruf der Gegenwart

Wenn „es nur eine wichtige Zeit gibt, und die ist jetzt“, (Tolstoj) dann ist es falsch, die Lebensqualität der augenblicklichen Erfahrung zu opfern, um eine zukünftige zu erreichen.

Die jetzige Erfahrung ist immer Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck. Leben ist eine Premiere, keine Generalprobe.

Und die jetzige Begegnung mit dem Menschen, der mir gegenüber steht, mich ruft und auf meine Antwort wartet, darauf wartet, dass ich meiner Ver-Antwort-ung gerecht werde, ist immer Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck. Und wenn ich es versäume, zu antworten, verpasse ich die Chance, die diese Begegnung bietet, verfehle damit den Sinn und Zweck meines Lebens; denn der Sinn und Zweck des Lebens ist jetzt.



„Ein Lehrer der Torah (des Gesetzes) stand auf und versuchte, ihm eine Falle zu stellen,indem er fragte: „ Rabbi, was soll ich tun, um das ewige Leben zu erwerben?“

Doch Jeschua sagte zu ihm: „Was steht geschrieben in der Torah? Wie liest du es?“

Er antwortete: „Du sollst Adonai, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand; und deinen Nächsten wie dich

selbst.“

„Das ist die richtige Antwort“, sagte Jeshua.“Tu das, und du wirst das Leben haben.“

Doch er, der sich rechtfertigen wollte, sagte zu Jeshua:

“Und wer ist mein Nächster?“

Jeshua nahm die Frage auf und antwortete:

„Ein Mann stieg von Jerushalajim nach Jericho hinab, als er von Räubern überfallen wurde. Sie zogen ihn nackt aus, schlugen ihn, gingen dann fort und ließen ihn halbtot liegen.

Zufällig kam ein Priester die Straße entlang; doch als er ihn sah, ging er auf der anderen Seite an ihm vorbei.

Ebenso ging ein Levit, der an den Ort kam, auf der anderen Seite vorbei.

Doch ein Mann aus Samaria, der auf der Reise war, stieß auf ihn, und als er ihn sah, wurde er von Mitleid erfüllt. So ging er zu ihm hin, tat Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann setzte er ihn auf seinen Esel, brachte ihn zu einem Gasthaus und sorgte für ihn.

Am nächsten Tag nahm er den Lohn von zwei Tagen, gab ihn dem Wirt und sagte:

„Sieh nach ihm; und wenn du mehr verbrauchst als dies, werde ich es dir zurückzahlen, wenn ich wiederkomme.“

Wer von diesen dreien scheint dir zum Nächsten des Mannes, der unter die Räuber fiel, geworden zu sein?“

Er antwortete: „Der, der ihm Barmherzigkeit erwies.“

Jeshua entgegnete ihm: „Geh und tu, wie er getan hat!“

(Lk10, 25-37)


In dieser Geschichte, die dir, lieber Leser, vielleicht recht bekannt vorkommt, treffen drei Menschen auf dem Weg, den sie verfolgen, auf den wichtigsten anderen Menschen, der ihnen in diesem Fall nicht gegenüber steht, sondern als hilfsbedürftiges, ohnmächtiges Gewaltopfer gegenüber liegt.

Alle drei haben die Chance, in dieser Begegnung ihrem Leben Sinn und Bedeutung zu geben. Doch zwei von ihnen verpassen ihre Chance. Sie antworten nicht auf den stummen Schrei des Opfers. Sie gehen vorbei. Sie sind zu sehr mit der Zukunft beschäftigt, haben zu sehr ihre Pläne und Ziele im Kopf, die sie nicht behindern lassen wollen. Sie wollen schnell weiter, wollen sich nicht aufhalten lassen. Da sie die Zukunft zu wichtig nehmen, hören sie nicht den Ruf der Gegenwart. Sie gehen vorbei, und damit gehtauch ihre Chance, diesen Augenblick ihres Lebens mit Sinn zu füllen, ungenutzt vorbei. Nur der Samariter ist offen genug für die Gegenwart, um auf den Ruf des wichtigsten anderen Menschen zu antworten.


(Nur nebenbei, lieber Leser möchte ich dich darauf aufmerksam machen, dass Jeshua der Messias, der dir vielleicht besser unter dem Namen Jesus Christus bekannt ist, in seiner Antwort die Perspektive, den Ausgangspunkt, von wo aus der Fragende schaut, umkehrt.

Der Gesetzeslehrer stellt die Frage: „Wer ist denn mein Nächster?“ Darin drückt sich ein Denken aus, bei dem ich im Mittelpunkt stehe und alle anderen Menschen in konzentrischen Kreisen näher oder weiter entfernt um mich herum angeordnet sind. Die Perspektive ist ego-zentrisch, ich-zentriert.

Christus dreht diese Blickrichtung um. Seine Sichtweise ist hetero-zentrisch, „anderer-zentriert“. Er stellt den anderen Menschen, der etwas von mir braucht, in den Mittelpunkt. Nicht er ist mein Nächster, sondern ich kann zu seinem Nächsten werden. Ich kann mich entscheiden, mich zu diesem Nächsten zu machen, indem ich auf seinen Ruf antworte.





Dass derjenige, der nicht auf den Ruf der Gegenwart antwortet, wirklich den Sinn und Zweck seines Lebens verfehlt, macht auch das Märchen „Frau Holle“ der Gebrüder Grimm deutlich:

Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere hässlich und faul. Sie hatte aber die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen musste sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen, und musste soviel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, dass die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, dass sie sprach: »Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.« Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wusste nicht, was es anfangen sollte, und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief: »Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.« Da trat es herzu und holte mit dem Brotschieber alles nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel, und rief ihm zu: »Ach schüttle mich, schüttle mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.« Da schüttelte es den Baum, dass die Äpfel fielen als regneten sie, und schüttelte bis keiner mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter. Endlich kam es zu einem kleinen Hause, daraus guckte eine alte Frau, weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: »Was fürchtest du dich, liebes Kind? bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir's gut gehen. Du musst nur acht geben, dass du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, dass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt! Darum sagt man in Hessen, wenn es schneit, die Frau Holle macht ihr Bett. ich bin die Frau Holle.« Weil die Alte ihm so gut zusprach, so fasste sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst. Es besorgte auch alles nach ihrer Zufriedenheit und schüttelte ihr das Bett immer gewaltig auf, dass die Federn wie Schneeflocken umherflogen; dafür hatte es auch ein gut Leben bei ihr, kein böses Wort und alle Tage Gesottenes und Gebratenes. Nun war es eine Zeitlang bei der Frau Holle, da ward es traurig und wusste anfangs selbst nicht, was ihm fehle, endlich merkte es, dass es Heimweh war; ob es ihm hier gleich viel tausendmal besser ging als zu Hause, so hatte es doch ein Verlangen dahin. Endlich sagte es zu ihr: »Ich habe den Jammer nach Hause kriegt, und wenn es mir auch noch so gut hier unten geht, so kann ich doch nicht länger bleiben, ich muss wieder hinauf zu den Meinigen.« Die Frau Holle sagte: »Es gefällt mir, dass du wieder nach Hause verlangst, und weil du mir so treu gedient hast, so will ich dich selbst wieder hinaufbringen.« Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es vor ein großes Thor. Das Thor ward aufgetan, und wie das Mädchen gerade darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, sodass es über und über davon bedeckt war. »Das sollst du haben, weil du so fleißig gewesen bist,« sprach die Frau Holle und gab ihm auch die Spule wieder, die ihm in den Brunnen gefallen war. Darauf ward das Thor verschlossen, und das Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit von seiner Mutter Haus: und als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief:

»Kikeriki,
unsere goldene Jungfrau ist wieder hie.«

Da ging es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam, ward es von ihr und der Schwester gut aufgenommen.

Das Mädchen erzählte alles was ihm begegnet war, und als die Mutter hörte, wie es zu dem großen Reichtum gekommen war, wollte sie der anderen hässlichen und faulen Tochter gern dasselbe Glück verschaffen. Sie musste sich an den Brunnen setzen und spinnen; und damit ihre Spule blutig ward, stach sie sich in den Finger und stieß sich die Hand in die Dornhecke. Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang selber hinein. Sie kam, wie die andere, auf die schöne Wiese und ging auf demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder: »Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich, ich bin schon längst ausgebacken.« Die Faule aber antwortete: »Da hätt ich Lust, mich schmutzig zu machen,« und ging fort. Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief: »Ach schüttle mich, schüttle mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.« Sie antwortete aber: »Du kommst mir recht, es könnte mir einer auf den Kopf fallen,« und ging damit weiter. Als sie vor der Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen Zähnen schon gehört hatte und verdingte sich gleich zu ihr. Am ersten Tage tat sie sich Gewalt an, war fleißig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte, denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr schenken würde; am zweiten Tage aber fing sie schon an zu faulenzen, am dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht aufstehen. Sie machte auch der Frau Holle das Bett nicht, wie sich's gebührte, und schüttelte es nicht, dass die Federn aufflogen. Das ward die Frau Holle bald müde und sagte ihr den Dienst auf. Die Faule war das wohl zufrieden und meinte, nun würde der Goldregen kommen; die Frau Holle führte sie auch zu dem Thor, als sie aber darunter stand, ward statt des Goldes ein großer Kessel voll Pech ausgeschüttet. »Das ist zur Belohnung deiner Dienste,« sagte die Frau Holle und schloss das Thor zu. Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der Hahn auf dem Brunnen, als er sie sah, rief:

»Kikeriki,
unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie.«

Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, solange sie lebte, nicht abgehen.

* * *




Wenn „die wichtigste Person immer der Mensch ist, mit dem ich gerade beisammen bin, der unmittelbar vor mir steht“ (Tolstoj), der gegen-wärtig ist, mir gegenüber wartet, dann ist es falsch, diesen wichtigsten Menschen für irgendetwas Anderes oder irgendjemand Anderen zu benutzen, auszunutzen, zu missbrauchen.





Weg ist Ziel- und umgekehrt


Des Lebens Ziel ist Frieden

Der Weg, das ist das Wort.

Und Weg ist auch der Frieden.

Und Ziel ist auch das Wort.

Nur Frieden führt zu Frieden,

nur Frieden führt zum Wort

und Worte führen zum Frieden

und Worte führen zum Wort


das Ziel ist auch der Weg

der Weg ist auch das Ziel.




Kommentar:

Das Gedicht weist darauf hin,

dass die weitverbreitete Annahme, dass der Zweck die Mittel heiligt, falsch ist.

Das Mittel muss mit dem Zweck übereinstimmen,

das Ziel muss schon auf dem Weg gegenwärtig sein.

„Nur Frieden führt zu Frieden:“

„Mittel und Zweck sind dasselbe, und es gibt kein Ziel, das vom Mittel zu trennen ist.

Nur auf die Mittel kommt es an, denn das Ziel wird durch die Mittel bestimmt.

Das Ziel liegt im ersten Schritt.“ ( Krishnamurti)

Krieg führt nicht zu Frieden. Krieg führt nur zu neuem Krieg.

„Was einmal besiegt wird, muss immer wieder besiegt werden.“ (Krishnamurti)








Wie un-sinnig, sinn-los es ist, das Glück, das in der Gegenwart sicher da ist, was ich jetzt sicher habe, aufzugeben, um das Glück, das nur vielleicht, gar nicht mit Sicherheit, in der Zukunft gefährdet ist, sicher zu machen, zeigt folgende Geschichte:


Die Suche nach dem rot-weiß-grün gestreiften Schaf


Stellen Sie sich mal vor, Sie besitzen irgendwo in England eine Schafherde. Sorglos, unbekümmert und unbefangen hüten Sie mit viel Freude Ihre Schafe, gehen darin auf, sich liebevoll um jedes einzelne Tier zu kümmern, kennen auch jedes einzelne Schaf und rufen es mit seinem Namen, führen das einfache, selbstverständliche Leben eines Schäfers.

Doch eines Tages hören Sie ein Gerücht: Irgendwo auf der Welt soll es ein rot-weiß-grün gestreiftes Schaf geben, obwohl es noch nie jemand verlässlich gesehen hat, und wenn es dieses Schaf tatsächlich gäbe, dann stellte es eine enorme Seuchengefahr für alle Schafe dar. Um nun Ihre Schafe vor dieser drohenden Gefahr zu schützen, mache Sie es sich zur Aufgabe, dieses Schaf ausfindig und unschädlich zu machen. Sie geben Ihre Schafe- schon mit einem mulmigen Gefühl im Bauch- notgedrungen in die Hände eines anderen Schäfers, der den Ruf hat, sich nicht sehr liebe- und verantwortungsvoll um seine Schafe zu kümmern; es sind auch schon einige seiner Schafe eingegangen. Aber Sie setzen sich über das warnende Gefühl hinweg, fangen an, systematisch die Ihnen bekannten Schafherden aufzusuchen und bei jeder Herde zu kontrollieren, ob es das rot-weiß-grün gestreifte Schaf dort tatsächlich gibt. Zuerst „klappern“ Sie alle anderen Schafherden in England an, finden das rot-weiß-grün gestreifte Schaf nirgendwo. Dann setzen Sie über nach Irland, auch da finden Sie das gefährliche Schaf nicht. Von da reisen Sie alle Schafherden auf dem europäischen Festland ab, gehen weiter nach Australien, Neuseeland, Südafrika. Nirgendwo finden Sie das von Ihnen gesuchte Schaf. Inzwischen sind drei Jahre vergangen. Sie sind Top-Experte für alle Schafherden der Welt geworden, führen eine lückenlose Datei über alle bekannten Schafherden, haben auf einer großen Weltkarte jede Herde mit einer Stecknadel markiert. Zwischendurch haben Sie immer wieder traurige Nachrichten von ihrer eigenen Schafherde bekommen, haben gerade erfahren, dass wegen der nachlässigen Pflege und ungenügenden Sorgfalt des anderen Schäfers schon die Hälfte Ihrer Schafe eingegangen sind. An diesem Punkt ziehen Sie nun ein Resümee Ihrer bisherigen Suche: Es scheint sehr, sehr unwahrscheinlich zu sein, dass es das bedrohliche Schaf wirklich gibt. Aber Sie können es immer noch nicht mit Sicherheit ausschließen. Denn es gibt zwei Restrisiken. Sie haben gehört, irgendwo in Peru, hoch in den Anden, soll es einen alten Indianer geben. Den hat zwar schon 10 Jahre lang keiner mehr gesehen; aber wenn dieser alte Indianer noch am Leben sein sollte, könnte er auch noch drei Schafe haben. Und Sie haben außerdem gehört, irgendwo in Tibet, noch höher im Himalaya, soll es noch einen alten Eremiten geben; den hat schon 20 Jahre lang keiner mehr gesehen, der könnte, falls er noch lebt, auch noch ein Schaf haben.

Jetzt stehen Sie vor folgender Alternative: Sie können sich dafür entscheiden, nach Lima zu fliegen, eine Expedition auszurüsten, drei Wochen sich erst einmal an die Höhenlage zu gewöhnen, weil der alte Indianer, wenn er überhaupt noch lebt, auf 5000 Meter Höhe lebt; dann weitere drei Wochen bis hoch in die Anden zu ziehen, eventuell wirklich den alten Indianer zu finden, der vielleicht tatsächlich drei Schafe hat, und Sie sich überzeugen können, dass keines der drei Schafe das rot-weiß-grün gestreifte ist; danach können Sie nach Nepal fliegen, wieder eine Expedition ausrüsten, diesmal vier Wochen akklimatisieren, weil der alte Eremit, falls es ihn überhaupt noch gibt, noch höher lebt; weitere vier Wochen in den Himalaya zu ziehen, eventuell tatsächlich den alten Eremiten zu finden, der vielleicht wirklich ein Schaf hat, das offensichtlich nicht das rot-weiß-grün gestreifte ist. Und Sie wissen während dieser ganzen Wochen, dass Sie wieder einige Ihrer eigenen Schafe verlieren werden.

Oder Sie sagen sich an diesem Punkt: Jetzt ist Schluss. Ich entscheide mich hier und jetzt dafür, diese Suche zu beenden. Alle bekannten Schafe dieser Welt, viele Millionen an der Zahl, habe ich überprüft, und das rot-weiß-grün gestreifte Schaf war nicht darunter. Die Wahrscheinlichkeit, dass von diesen 4 Schafen, die es eventuell noch geben könnte, eines das rot-weiß-grün gestreifte ist, ist verschwindend gering. Und ich entscheide mich jetzt dafür, mit diesem Restrisiko einfach zu leben. Irgendwann muss ich es sowieso. Denn es ist ja nicht ausgeschlossen , dass der alte Einsiedler, nachdem ich ihn endlich gefunden habe, mir sagt: „Ja, ich habe dieses eine Schaf, und wie Sie sehen, ist es ein ganz gewöhnliches Weißes. Aber ich habe gehört, noch höher im Gebirge soll noch ein weitere Eremit leben; den hat schon 30 Jahre niemand mehr gesehen; der soll auch noch ein Schaf haben“. Es wird immer ein gewisses Restrisiko bleiben, das zwar immer geringer werden wird, aber sich nie ganz auflösen wird. Ich werde nie ganz sicher sein, dass es dieses Schaf und die von ihm ausgehende Gefahr nicht doch irgendwo gibt. Als ich mich auf den Weg machte, es mit Sicherheit auszuschließen, bin ich auf eine endlose Straße getreten, auf der ich nie ankommen werde. Und das Absurde und Paradoxe an dieser ganzen Suche ist ja Folgendes: Ich habe diesen ganzen Aufwand ja betrieben, um meine wirklichen Schafe gegen eines zu schützen, das mit großer Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht existiert. Ich wollte sie gegen eine unwirkliche Gefahr schützen und habe sie gerade dadurch einer wirklichen Gefahr ausgesetzt. Ich wollte sie behalten und hab sie gerade dadurch verloren. Ich habe meine sichere Freude in der Gegenwart geopfert, weil ich irgendwann in der Zukunft ein Gespenst finden wollte. Ich habe die klare Erfahrung von Glück für eine zweifelhafte Phantasie aufgegeben. Zu lange habe ich schon das, was es wirklich gibt, für das geopfert, was mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht existiert. Diesen Weg werde ich jetzt nicht weitergehen. Ich werde umkehren, um noch das von meiner Wirklichkeit zu retten, was noch zu retten ist.






Für andere später - mit anderen jetzt

Lebe nicht nur darin, für Andere etwas zu tun, für eine bessere Lebensqualität in der Zukunft, später!

Lebe auch (oder besser mehr) darin, mit Anderen etwas zu tun, mit einer möglichst guten Lebensqualität in der Gegenwart, jetzt !




Was das bedeutet, wird sehr anschaulich in folgendem Songtext von Udo Jürgens deutlich :


Der gekaufte Drachen

Ein Kieselsteinweg führte mich zu dem Haus.

Das Licht fiel auf englischen Rasen.

Auf seidenem Teppich stand ich im Portal

vor Gemälden und wertvollen Vasen.

Dann zeigte der Hausherr voll stolz den Besitz:

„Was Sie sehn, gehört mal meinem Kleinen.

Dieses Haus, die Fabrik, nur für ihn tu ich das.

Dafür leb ich, ich hab ´nur den einen.“


Während er so erzählte, mit dem Glas in der Hand,

sah niemand den Kleinen, der im Türrahmen stand.

Als er anfing, zu reden, war es plötzlich ganz still.

Denn er sagte:“ Papa, ich weiß nicht, ob ich das will.

Ich will mit dir einen Drachen bau´n,

mit dir einen Drachen bau´n.

Für so was hast du niemals Zeit.

Ich will mit dir einen Drachen bau´n,

mit dir einen Drachen bau´n.

Denn so ein gekaufter Drache

fliegt nicht mal halb so weit.


Der Kieselsteinweg führt noch heut`zu dem Haus.

Die Paties sind dort längst verklungen.

Der Mann sitzt vor mir, leicht gebückt und ergraut,

und erzählt mir leis`von seinem Jungen.

„ Der lebt heut` sein Leben irgendwo in der Stadt.

Es ist alles ganz anders gelaufen.

Er hat mir geschrieben, er kommt nicht mehr heim.

Ich glaub´, ich wird alles verkaufen.“


Während er so erzählte, mit wenig Hoffnung im Blick,

gehen meine Gedanken zu dem Kleinen zurück.

Er sagte damals sehr wenig, aber trotzdem so viel

Mit den Worten: „Papa, ich weiß nicht, ob ich das will.

Ich will mit dir einen Drachen bau´n,

mir dir einen Drachen bau`n.

Für so was hast du niemals Zeit.

Ich will mit dir einen Drachen bau`n,

mit dir einen Drachen bau´n.

Denn ein gekaufter Drache

Fliegt nicht mal halb so weit.“