Kind-Sein


 

Des Menschen Erden-Weg beginnt als Kind.

Noch halb zu Hause dort, von wo es herkommt,

und leichtgewichtig auf der Wolke schwebend,

die ihm für lange Zeit vertraute Heimat war,

mit einem Flügel noch im Licht der Sphären

(es kann noch Engel seh'n),

stellt es, noch fremd, noch nicht gewöhnt

an diese wundersame, wundervolle Welt,

sich wundernd, staunend diese Fragen,

die es dann später irgendwann,

dann, wenn es nicht mehr Neuankömmling ist,

durch das schon längst Gewohnte abgestumpft,

vergessen haben wird:

 

 

"Warum bin ich ich und warum nicht du?

Warum bin ich hier und warum nicht dort?

Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?

Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?

Ist, was ich sehe und höre und rieche,

nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?

Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,

die wirklich die Bösen sind?

Wie kann es sein, dass ich, der ich bin,

bevor ich wurde, nicht war,

und dass einmal ich, der ich bin,

nicht mehr, der ich bin sein werde?"
 

(aus Peter Handke, Lied vom Kind-Sein)





Kommentar:

 

Als das Kind Kind war,

ging es mit hängenden Armen,

wollte, der Bach sei ein Fluss,

der Fluss sei ein Strom

und diese Pfütze das Meer.

 

Als das Kind Kind war,

hatte es von nichts eine Meinung,

hatte keine Gewohnheit,

......

und machte kein Gesicht beim Fotografieren.

 

Als das Kind Kind war,

würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis

und am gedünsteten Blumenkohl

und ißt jetzt das alles und nicht nur zur Not.

 

Als das Kind Kind war,

.....

erschienen ihm viele Menschen schön

und jetzt nur noch im Glücksfall,

stellte es sich klar ein Paradies vor,

und kann es jetzt höchstens ahnen,

konnte es sich Nichts nicht denken

und schaudert heute davor.

 

Als das Kind Kind war, spielte es mit Begeisterung

und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,

wenn diese Sache seine Arbeit ist."

 

(aus Peter Handke, Lied vom Kind-Sein)





Du musst das Leben nicht verstehen


 

Du musst das Leben nicht verstehen,

dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen,

so wie ein Kind im Weitergehen

von jedem Wehen

sich viele Blüten schenken lässt.

 

Sie aufzusammeln und zu sparen,

das kommt dem Kind nicht in den Sinn.

Es löst sie leise aus den Haaren,

drin sie so gern gefangen waren,

und hält den lieben jungen Jahren

nach neuen seine Hände hin.

(Rainer Maria Rilke)

Publiziert am: Freitag, 16. April 2021 (719 mal gelesen)
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