Schon auf dem Weg am Ziel sein



 

Zwei Wanderer wollen einen Berg besteigen.
 

Der eine richtet seinen Blick sofort auf das Gipfelkreuz, das schon vom Tal aus zu sehen ist. Er will möglichst schnell dieses Ziel erreichen. Immer wieder sieht er nach oben auf das Gipfelkreuz, um sich zu vergewissern, ob er dem Ziel schon näher gekommen ist. Und wenn er es mal gerade nicht sehen kann, hat er es im Kopf. Er ist während des ganzen Weges nur mit dem Ziel beschäftigt. Das Ziel lässt ihn nicht mehr los - oder besser: er lässt das Ziel nicht los. Er achtet deshalb überhaupt nicht auf den Weg. Er bemerkt nicht die Steine, die auf dem Weg liegen, über die er stolpern und sich einen Fuß verstauchen könnte, so dass er gar nicht auf dem Gipfel des Berges ankäme. Als er wieder einmal nach oben auf den Gipfel sieht, übersieht er ein Zeichen, das anzeigt, dass der Weg abbiegt, geht weiter in die bisherige Richtung, bis der Weg vor einer hohen Felswand plötzlich endet. Jetzt erst merkt er, dass er sich verlaufen hat, muss bis zu der übersehenen Markierung zurücklaufen. Weil er möglichst schnell am Ziel ankommen will, geht er hastig, schneller, als es seinem Körper gut tut, bemerkt nicht, wie er durch sein übereiltes Gehen ermüdet und sich erschöpft. Er muss öfters eine Pause machen, um sich wieder zu erholen. Vor allem aber kann er sich nicht an dem erfreuen, was ihm auf dem Weg begegnet. Er sieht nicht die prächtigen Blumen, die links und rechts wachsen, hört nicht den plätschernden Bach, der den Weg kreuzt, bemerkt nicht das Eichhörnchen, das einen Baumstamm hochklettert, die Aussicht auf den See, die sich plötzlich öffnet. Das alles nimmt er gar nicht wahr und kann es deshalb auch gar nicht genießen.
 

Der andere Wanderer sieht nur einmal auf das Gipfelkreuz, um sich ein Bild von seinem Ziel zu machen, zu wissen, wo er hin will. Er weiß, dass das reicht. Es gibt ja einen markierten Weg, dem er nur achtsam folgen muss, um sicher anzukommen. Das Ziel kann er jetzt loslassen, kann auf den Weg achten. Er sieht die Gefahren, die mit dem Weg verbunden sind: die Stolpersteine, die Stellen, an denen er ausrutschen könnte. Er sieht auch die weniger offensichtlichen Markierungen, bleibt deshalb auf dem richtigen Weg. Und er geht in einem Tempo, das zu seiner körperlichen Verfassung passt, ruhig und stetig, Schritt für Schritt. Er merkt rechtzeitig, wenn seine Beine und Füße müde werden, geht dann langsamer, um sich nicht zu erschöpfen, oder macht eine kurze Pause, und überholt irgendwann doch den anderen Wanderer, der zu hastig gegangen ist und sich deshalb lange ausruhen muss, um sich von seiner Erschöpfung zu erholen. Vor allem aber kann er genießen, was ihm auf dem Weg begegnet, den Bach, die Blumen, das Eichhörnchen, die Aussicht auf den See, einfach im Vorübergehen, ohne dafür stehen bleiben zu müssen (was er natürlich auch einfach könnte).
 

Dem ersten Wanderer ist nur wichtig, dass er sein Ziel erreicht; wie, die Qualität des Weges, das ist ihm egal. Für ihn hat nur der eine einzige Augenblick Bedeutung, an dem er auf dem Berggipfel ankommt. Ein inneres Bild von diesem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt hält er während des ganzen Weges aufrecht, hält daran fest, so dass er nicht offen und frei dafür ist, das Gegenwärtige wahrzunehmen. Für einen einzigen Augenblick in der Zukunft opfert er viele Augenblicke in der Gegenwart. Da es für ihn nur Wert hat, am Ziel zu sein, erlebt er die vielen Zeitpunkte, in denen er auf dem Weg ist, als wertlos; er ist ja nicht am Ziel.
 

Der zweite Wanderer hat auch ein Ziel, das er erreichen will; aber es ist ihm auch wichtig, wie. Für ihn ist auch die Qualität des Weges von Bedeutung. Auch er macht sich für einen Moment ein Bild von seinem Ziel, aber er lässt diese Zukunfts-Vorstellung dann los, um frei zu sein für die Wahrnehmung in der Gegenwart. Er ist in der Lage, den vielen Augenblicken, in denen er auf dem Weg ist, eine positive Lebensqualität zu geben. Er ist schon auf dem Weg am Ziel.
 

Der erste Wanderer geht von dem Grundgedanken aus, dass da, wo er jetzt ist, keine oder zu wenig Lebensqualität vorhanden ist. Er muss erst etwas verändern, damit Lebensqualität entsteht.

 

Der zweite Wanderer dagegen wird von der Grundidee geleitet, dass an der Stelle, wo er jetzt ist, genug Lebensqualität schon da ist. Er muss sie nicht erst schaffen, er muss sie nur finden. Er muss nichts verändern, er kann einfach in dem bleiben, was ist, weiterführen, was schon gegeben ist. Wenn er sich von dem Punkt, an dem er sich gerade befindet, auf ein Ziel zubewegt, dehnt er den positiven Wert, den er gefunden hat, nur weiter aus.




 

Der erste Wanderer geht von einer Grundannahme aus, die in ihren Konsequenzen erschreckend ist: dass da, wo er jetzt ist, keine oder zu wenig Lebensqualität vorhanden ist. Der gegenwärtige Zustand, der Ausgangspunkt, wird von ihm als Mangelzustand, als negativ erlebt. Er muss erst etwas verändern, muss sich vom Ausgangspunkt 0 in Richtung Zielpunkt N bewegen, damit Lebensqualität entsteht. Und genug Lebensqualität ist für seine Vorstellung erst dann vorhanden, wenn er den eventuell weit entfernten Zielpunkt erreicht hat.
 
 
 
 
            ZIELPUNKT N
                     x+
 
 
 
 
 
                                   AUSGANGSPUNKT 0  X



Er macht also einen Schritt auf den Zielpunkt zu, erreicht einen Punkt 1. Da genügend Lebensqualität für ihn erst dann entsteht, wenn er den Zielpunkt erreicht hat, wird auch dieser Punkt als Mangelzustand erlebt, in dem etwas fehlt. Und wenn er weiterschreitet zum Punkt 2, 3, 4, 5 und so weiter, erlebt er auch diese Punkte als negativ. Sogar der letzte Punkt vor dem Erreichen des Ziels (n-1) wird von ihm immer noch als negativ bewertet, da er ja immer noch nicht am Ziel angekommen ist.
 

            ZIELPUNKT N
              X +
 
 
 
    PUNKT n-1  X -
 
 
 
 
 
                               PUNKT 3 X -
 
 
                                        PUNKT 2 X-
 
 
                                               PUNKT 1 X-    
 
 
 
                                     -AUSGANGSPUNKT 0 X-



Das Erschreckendste an diesem Grundkonzept passiert jedoch erst, wenn schließlich der lang ersehnte Zielpunkt erreicht ist. Dann geschieht nämlich manchmal Folgendes. Der Wanderer, der ja gar nicht daran gewöhnt ist, an dem Punkt, an dem er gerade ist, Lebensqualität zu finden, kann auch diesen Zeitpunkt nicht genießen. Er sucht sich statt dessen sofort einen neuen Zielpunkt.
 
Der zweite Wanderer geht von dem Konzept aus, dass da, wo er jetzt ist, genügend Lebensqualität schon vorhanden ist. Er sieht jedoch die Möglichkeit, diesen Zustand, der schon gut ist, in dem er auch bleiben könnte, noch zu steigern, die Lebensqualität weiter auszudehnen. Wenn er einen Schritt in Richtung auf sein Ziel macht, fügt er dem +, das schon am Ausgangspunkt gegeben ist, ein weiteres + hinzu. Mit jedem Schritt sammelt er weitere +-Zeichen an, so dass schließlich, wenn er das Ziel erreicht hat, viele +-Zeichen angehäuft da sind.



 

Zielpunkt         X ++++++++++++++++++ (viele +-Zeichen zusammen)
 
 
 
 
 
                                       X++++
 
 
 
 
                                                       X++
 
                                                                  X +   Ausgangspunkt




Im Süden Italiens, auf der Halbinsel Gargano, gibt es einen wirklichen Berg, den Monte Sacro (Heiligen Berg), der im Mittelalter von vielen Menschen als Ziel einer Pilgerfahrt erstiegen wurde. Am Berghang lag damals ein Kloster, von dem heute nur noch einige Mauerreste erhalten sind, u. A ein Seiteneingang, der von einer Statue geschmückt wird. Diese Steinfigur stellt den König David dar, der ein Lied singt und sich dabei auf der Leier begleitet. Die Worte des Lieds sind in lateinischer Sprache unterhalb der Statue in das Mauerwerk gemeißelt. Sie bedeuten übersetzt etwa Folgendes:
           Seht an, seht hinein, seht hinauf!
           (Seht nach vorne, seht nach innen, seht nach oben!)
           In Allem wirst du finden den Tempel, den Altar, den Glauben, das Göttliche und den Triumph.
           Was du erstrebst, du hast es bereits.
 
Das Prinzip, das hier auf dem Weg zum Gipfel des „Heiligen Berges“ dem Pilger vermittelt wurde, ist das Konzept, dem auch der zweite Wanderer in unserem Beispiel folgt:
            Was du suchst, ist schon da. Sei nur offen für alles, aufmerksam in alle Richtungen! Dann kannst du es da finden, wo du gerade bist.







 

In einem Therapiehandbuch zur Akzeptanz und Commitment Therapie findet sich eine ähnliche kurze Geschichte:

„Nehmen Sie an, Sie gehen Ski fahren. Sie nehmen einen Lift bis auf die Bergspitze, und gerade wollen Sie den Berg mit den Skiern herunterfahren, als ein Mann auf Sie zugelaufen kommt und Sie fragt, wohin Sie fahren wollen. Sie antworten: „Ich fahre zur Hütte am Fuß des Berges. Da will ich dann etwas essen.“ Der Mann sagt: „Da kann ich Ihnen helfen, dass Sie schneller zu Ihrem Essen kommen.“ Und prompt packt er Sie, schleppt Sie zu einem Hubschrauber, fliegt Sie zur Hütte und verschwindet. Etwas benommen und durcheinander merken Sie, dass irgendetwas daran nicht stimmt. Sie nehmen wieder den Lift zur Bergspitze, und als Sie gerade mit den Skiern den Berg runterfahren wollen, sehen Sie, dass derselbe Mann wieder auf Sie zugelaufen kommt, um Sie wieder in seinen Hubschrauber zu bringen. Diesmal würden Sie sicher ärgerlich, würden sich weigern, mitzukommen. Denn nun wissen Sie, was daran nicht stimmt: Jetzt wollen Sie gar nicht essen. Sie wollen deshalb gar nicht möglichst schnell zu Hütte, egal wie. Jetzt wollen Sie Ski fahren. Sie wollen Ski fahrend zur Hütte. Es geht Ihnen darum, wie Sie zur Hütte kommen. Die Qualität, die Sie erfahren wollen, liegt im Wie.“

 

 

 

 

 

 

 

 



 

Publiziert am: Samstag, 13. Februar 2016 (1131 mal gelesen)
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