Mein Reich ist nicht von dieser Welt



 

Am Nachmittag des dritten Tages erreichten wir den Gipfel des Hermon.

Da blieb er stehen und schaute auf die Dörfer und Siedlungen in den Tälern.

Und sein Gesicht leuchtete wie flüssiges Gold.
 

Er streckte seinen Arm aus, zeigte auf die Täler und sagte:

"Betrachtet die Erde im grünen Gewand und seht, wie die Flüsse den Saum ihres Kleides versilbern!

Wahrlich, die Erde ist schön, und schön ist alles, was sie enthält.

Doch hinter all dem, was sich euren Augen zeigt, liegt ein anderes Königreich, in dem ich herrschen werde.

Und wenn es euer Wille und Wunsch ist, werdet auch ihr dort sein und mit mir herrschen.

Mein Gesicht und eure Gesichter werden keine Masken tragen, und unsere Hände werden weder Schwert noch Szepter halten;

die Bewohner unseres Reiches werden leben in Frieden, und statt uns zu fürchten, werden sie uns lieben."
 

Als ich Jesus so sprechen hörte, fühlte ich, dass ich blind geworden war für alle Königreiche der Welt und sämtliche Städte aus Mauern und Türmen;

mein Herz hegte nur noch den einen Wunsch, dem Meister in sein Königreich zu folgen.


 

In diesem Augenblick trat Judas Iskariot vor Jesus hin und sagte:

"Vergiss nicht, Meister: die Reiche dieser Welt sind unermesslich, und Davids und Salomons Städte müssen Rom siegreich niederrringen.

Wenn du der König der Juden sein willst, dann stehen wir dir mit Schwert und Schild zur Seite, und wir werden den Feind bezwingen."


 

Als Jesus diese Worte hörte, spiegelte sich Zorn in seinem Gesicht.

Er sah Judas an und entgegnete ihm mit einer Stimme, die dem Donner glich:

"Geh hinweg, Satan! Glaubst du, dass ich aus Ewigkeiten abstieg, um einen Tag lang einen Haufen von Ameisen zu beherrschen?

Weit höher steht mein Thron, als deine Vorstellungen zu reichen vermögen.

Sucht derjenige, dessen Schwingen die Erde umfangen, Zuflucht in einem verlassenen und vergessenen Nest?

Trachtet der Lebendige nach Ehrerbietung und Lobpreis derer, die gehüllt sind in Leichentücher?

Mein Königreich ist nicht von dieser Welt, und mein Thron steht nicht auf den Schädeln eurer Ahnen.

Wenn ihr Anderes erstrebt als das Königreich des Geistes,

dann ist es besser, ihr verlasst mich sofort

und steigt in die Totengrüfte hinab, wo die gekrönten Häupter von einst Hof halten und Ehre erweisen den Gebeinen eurer Vorväter.

Versuch nicht, mich zu einer Krone aus Blech zu überreden!

Meine Stirn verlangt nach den Pleiaden oder nach euren Dornen.
 

....

 

Hast du mich gewogen, und bist du zu dem Schluss gekommen,

ich eigne mich dazu, Legionen von Zwergen anzuführen

und ihre Streitwagen gegen einen Feind zu richten,

der bloß in eurem Hass sein Lager aufgeschlagen hat und nur in eurer Angst aufmarschiert?
 

...
 

Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

Mein Reich ist da, wo zwei oder drei von euch in Liebe sich versammeln,

über die Schönheit der Schöpfung staunen,

sich freuen und meiner gedenken."


 

Und sich an Judas wendend fuhr er fort:

"Hinweg, Mann! Dein Reich wird niemals zu meinem Königreich gehören."


 

(Khalil Gibran, Jesus Menschensohn, Jakobus, der Sohn des Zebedäus)

 



 

 

Das gilt nicht nur für ihn, den ersten,

der wusste, wer er war: der Menschensohn -

wieder und immer noch.

Es gilt auch für uns alle,

seine Brüder.

 

Publiziert am: Montag, 15. Februar 2021 (619 mal gelesen)
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